Westliche Identität und Weltpolitik

(Ein Gastbeitrag)

"Wirtschaftliche Schwierigkeiten, verschärfte gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die Verrohung von Umgangsformen sowie Spaltungstendenzen lassen keinen Zweifel daran, dass sich der Westen in einer kritischen Phase seiner Entwicklung befindet. Um eine konstruktive Rolle im sich neu ordnenden globalen Miteinander zu spielen, ist eine Rückbesinnung auf die Wurzeln der westlichen Identität nötig.
... 
Die Individualrechte schützen den Einzelnen vor Übergriffen des Staates oder auch politischer Mehrheiten und gelten als ihrem Wesen nach unantastbar. Sie umfassen unter anderem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Meinungsfreiheit und das Recht auf Eigentum. Der Eröffnung rechtlich geschützter individueller Freiheitsräume verdankt der Westen eine Vielzahl positiver Errungenschaften in Wissenschaft und Wirtschaft.
... 
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington (1927-2008) sagt u.a:
"Eine multikulturelle Welt ist unvermeidbar, weil das globale Imperium unmöglich ist. Die Bewahrung der USA und des Westens erfordert die Erneuerung der westlichen Identität. Die Sicherheit der Welt erfordert das Akzeptieren der multikulturellen Welt."
...
Schon an den gegenwärtigen westlichen Versuchen, die eigene globale Vorherrschaft zu bewahren und eigene Vorstellungen unter dem Schlagwort „regelbasierte internationale Ordnung“ im Interesse der Umformung anderer Kulturen durchzusetzen, lässt sich ablesen, wie weit das Denken westlicher Machthaber einschließlich der von den Leitmedien geprägten breiten Öffentlichkeit von den Erkenntnissen Huntingtons entfernt ist. 
... 
Dass die Ausübung der Meinungsfreiheit Menschen ins Abseits befördern kann, wenn sie der herrschenden Auffassung widersprechen, ist in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend deutlicher geworden, so nicht zuletzt im Zusammenhang mit Ereignissen wie den Terroranschlägen vom 11. September 2001, den Protesten auf dem Maidan in Kiew 2014 und der Flüchtlingskrise 2015. Inzwischen hat es den Anschein, als sei ein neues Niveau erreicht. Die Bedrohungen, denen Individualrechte als zentraler Bestandteil der westlichen Identität derzeit durch dem Kulturkreis innewohnende Kräfte ausgesetzt sind, sind nach Art und Umfang die größten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In aller Deutlichkeit hat dies der Umgang mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 gezeigt.
... 
In der Coronazeit schälte sich ein Muster heraus, das sich seither auch in anderen Zusammenhängen beobachten lässt. Eine Gefahr wird von politisch maßgeblichen Kräften genutzt, um ihre eigenen Machtbefugnisse auszuweiten, Individualrechte einzuschränken und gewünschte gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zu befördern.
... 
Das herrschende Verfahren lässt sich auch so beschreiben: Ein vielschichtiges Thema – seien es im Falle von Corona die Risiken von Infektionen, die individuell unterschiedlichen Immunantworten und Gefahren pharmazeutischer Eingriffe oder im Falle des Klimas die Faktoren, die den ständigen Wandel beeinflussen - wird unter Ausklammerung der Vielschichtigkeit mit einem einfachen Lösungsansatz versehen. 
... 
Solche Beobachtungen werfen zwangsläufig die Frage nach dem Warum auf. Wem nützt es, wenn der Debattenraum verengt und bestimmte Sichtweisen als alternativlos präsentiert werden? Dass Regierende ein Interesse haben, ihre aktuellen Vorhaben zu verwirklichen, liegt auf der Hand. Die geschilderten Beispiele lassen indes vermuten, dass es um sehr viel mehr geht, nämlich die Ausdehnung von Macht und darüber hinaus um sehr viel Geld. 
... 
Aus dem bislang Dargelegten ergibt sich ein scharf umrissenes Bild der in jüngster Zeit zu beobachtenden politischen Praxis der westlichen Welt. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Motive wird versucht, Freiräume der einzelnen Menschen zu beschränken und zu erwartende Widerstände schon dadurch im Keim zu ersticken, dass Angstszenarien aufgebaut und mit wissenschaftlicher Unterstützung unterfüttert werden.
... 
Nach den Worten des Philosophen Michael Esfeld nimmt die Wissenschaft dabei die Rolle ein, die in vormodernen Gesellschaften die Religion gespielt hat... „Es geht darum, eine ‚neue Normalität‘ zu schaffen, die in einer umfassenden sozialen Steuerung besteht“, schreibt Esfeld.
... 
Seit der Coronazeit sind die Tendenzen zur Ausdehnung der staatlichen Macht in der westlichen Welt unübersehbar. Kritiker befürchten, dass hinter den Bemühungen, immer mehr Daten über Menschen – ihre Gewohnheiten, Gesundheit und Bewegungsmuster – zu sammeln, das Ziel der Totalüberwachung und Verhaltenssteuerung steckt..."