Mit der Lüge leben?

"Im Deutschland des Jahres 2022 ist die Lüge allgegenwärtig. Und wehe, man spricht über sie und benennt die Dinge, die tabuisiert sind, beim Namen. Wir leben in einer Verdrängungs-Gesellschaft. In der eine kleine Minderheit die große Mehrheit mundtot gemacht hat und sie derart terrorisiert, dass sie Offensichtliches nicht mehr auszusprechen wagt. Eine rationale Diskussion ist dann nicht mehr möglich, es wird nur noch mit Beschimpfungen und Aufregung reagiert.

Das jüngste Beispiel war für mich die Aussage von CDU-Chef Friedrich Merz über „Sozialterrorismus“ von Ukrainern. Eigentlich sollte schon ein Kind ab einem gewissen Alter in der Lage sein, zu trennen zwischen dem Elend einer Gruppe von Menschen auf der einen Seite, und Missbrauch von staatlichen Leistungen auf der anderen Seite. Ich mache aus meinem tiefen Mitgefühl mit den Menschen, die unter dem Krieg leiden, nie ein Hehl. Und ich bin der Ansicht, dass man ihnen helfen muss. Aber ich weiß auch aus dem privaten Umfeld von Fällen von Missbrauch sozialer Leistungen. Dass heute viele Politiker das nicht mehr zusammenbringen können, weil sie eine Schwarz-Weiß-Sichtweise auf Dinge haben, ist erschreckend. Es beweist eine massive Infantilisierung: Es sind in der Regel Kleinkinder, die zwischen Gut und Böse keine Abstufungen kennen.
...
Man hat den Eindruck, dass unsere Gesellschaft inzwischen mehrheitlich aus „Umfallern“ besteht. Genauer gesagt sogar aus Konformisten, die gar nicht so weit kommen, umzufallen. Weil sie ihre Meinung, die nicht mit dem Meinungsdiktat des politisch-medialen Komplexes übereinstimmt, gar nicht mehr laut und öffentlich auszusprechen wagen. Diese Feigheit ist der Grund dafür, dass eine kleine Minderheit den Korridor der zulässigen Meinungen unter ihre Kontrolle bringen und immer weiter verengen konnte.
...
Der Meinungskorridor ist der heilige Gral im neuen Deutschland. Wehe, man kommt ihm bzw. seinen Grenzen zu nahe! Unsere großen Medien haben sich selbst zu Meinungskorridor-Wärtern degradiert. In den sozialen Medien steht ihnen eine ganze virtuelle Armee von Gesinnungsgenossen zur Seite, viele aus dem Umfeld von „Nicht-Regierungs-Organisationen“, wie man heute vom Staat mit Steuergeldern aufgepäppelte und zur Bekämpfung Andersdenkender instrumentalisierte Organisationen nennt – etwa die Amadeu Antonio Stiftung um Stasi-IM Anetta Kahane oder das „Zentrum Liberale Moderne“, das von dem Grünen-Politiker-Ehepaar Marieluise Beck und Ralf Fücks gegründet worden ist und sogar eine explizite „Gegnerbeobachtung“ betreibt. Völlig unverhohlen werden hier Steuergelder für Aufgaben eingesetzt, die in autoritären Staaten der Geheimdienst ausführt: die Diskreditierung von Andersdenkenden.

Warum all das möglich ist und sich die Feinde der Demokratie, die all das betreiben, auch noch als Verteidiger genau dieser Demokratie fühlen, ist ebenso einfach wie schwer zu verstehen: Weil sie sich in die Hybris hineingesteigert haben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Und damit alle, die sich ihrer „Wahrheit“ – egal ob Corona oder Grenzenlosigkeit – widersetzen, für Feinde der Wahrheit halten. Und damit für schlechte Menschen, also Gegner der Demokratie. Damit ist der Weg frei, sie im Namen des Guten zu entmenschlichen und sie in letzter Konsequenz für vogelfrei zu erklären.

Die besondere Tragik, dass ausgerechnet in Deutschland im 21. Jahrhundert diese Tendenz überhandnimmt, liegt darin, dass die vermeintlich „Guten“ nichts, aber auch gar nichts aus der Geschichte gelernt haben. Sonst müssten sie wissen, dass noch jedes noch so schlimme Regime seine Untaten immer in der Überzeugung vollzog, es kämpfe für das „Gute“. Die Massenmörder, die im Namen des Nationalsozialismus oder des internationalen Sozialismus Gräueltaten begingen, waren zu einem großen Teil aufrichtig überzeugt, „Gutes“ zu tun – weil ihre Opfer zuvor entmenschlicht wurden, als Gegner des „Guten“.

Dass unsere Gesellschaft heute wieder auf diese Mistgabel der Geschichte tritt, zeigt, dass die gesamte Vergangenheitsbewältigung nicht viel mehr war als eine Schimäre. Den US-Amerikanern, bei denen die geschilderten Entwicklungen mindestens genauso dramatisch verlaufen wie bei uns, kann man wenigstens zugutehalten, dass ihr geschichtlicher Ballast und damit auch ihre historische Verantwortung (und nur die) geringer ist als unserer. Einfacher ausgedrückt: Wir sind die weitaus gebrannteren Kinder, und von uns hätte man erwarten können, geläuterter zu sein. Aber Pustekuchen! 
...
Wie wir aus all dem herauskommen, werden Sie mich nun vielleicht fragen? Das ist wohl leider erst möglich, wenn der Leidensdruck der Mehrheit so groß wird, dass sie die Gängelung durch die Minderheit nicht mehr hinnimmt. Das ist zumindest die Lehre aus der Geschichte. Und die zeigt auch: Im schlimmsten Fall lassen sich die Menschen auch in einen Abgrund führen, ohne sich zu wehren.
...
Wenn wir zu uns ehrlich sind, sehen wir doch, wie gerade die demokratischen Werte, mit denen wir aufgewachsen sind, vor unseren Augen verfallen. Ebenso wie die wirtschaftliche und politische Stabilität. Man muss eine sehr dicke rosa Brille aufhaben, um das nicht zu sehen. Dabei wäre eine ungeschönte Bilanzaufnahme unerlässlich, um zu retten, was noch zu retten ist, und mit dem Wiederaufbau einer pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaft, wie wir sie hatten, anzufangen. Sich weiter in die Tasche zu lügen, wegzusehen und die Missstände schön zu reden, ist der direkte Weg in die Katastrophe..."

[Dies ist ein Beitrag von B. Reitschuster aus seinem Wochenbriefing/hier: Auszüge]