Wissenschaft. Sie ist das neue Totschlagargument!

(Gastbeitrag von Reinhard K. Sprenger)

"Viele sehnen sich nach einer Zeit, in der man noch scheinbar klar zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheiden konnte. Und es sind die Wissenschafter, die eine solche Situation wiederherstellen und das Chaos ordnen sollen.
Kommt es zu irgendeinem argumentativen Handgemenge, muss man nicht lange warten, und jemand zieht ein Ass aus dem Ärmel: «Wissenschaft! Wir folgen der Wissenschaft!» Dieser Ruf signalisiert nicht erst seit Corona, dass keine zwei Meinungen mehr möglich sind, man überhaupt keine Meinungen mehr hat, sondern die Wahrheit. Basta! Ende der Diskussion!
Und nicht nur moralisierende Milieus sind anfällig für die Indienstnahme wissenschaftlicher Erkenntnis. Einige aktuelle Beispiele zeigen schon, wie leicht die Forschung instrumentalisiert wird.
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Es gibt nicht «die» Wissenschaft. Beim Verweis auf die Wissenschaft ist mithin Vorsicht geboten. Häufig werden Meinung und Wahrheitssuche, objektive Standards und volkserzieherische Zwecke verwechselt.
Zu sehr wird «im Auftrag» geforscht, zu oft verwässern individuelle Reputations- und Finanzinteressen die wissenschaftsethischen Richtmasse. Wissenschaftsbasierte Meinung mutiert dann zur meinungsbasierten Wissenschaft.
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Der Verweis auf «Wissenschaft!» ist jedoch nicht vorrangig ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern hat eine rhetorische Funktion im sozialen Tauziehen. Es geht um Macht. Das Zeigen auf Wissenschaft reklamiert ein parteiloses Externum, das Interessen leugnet. Pontius Pilatus winkt aus der Ferne. Das Programm: Keine Wahl! Der freie Wille dankt ab, versteckt sich hinter szientistischem Sachzwang.
Wer also Wissenschaftlichkeit reklamiert, will die Dinge festzurren, will, dass die Leute nicken, den Widerstand aufgeben. Weil die Dinge so sind, wie sie sind, eben «alternativlos». Wissenschaft ist Wahrheit, und nur wir haben privilegierten Zugang zu ihr.
Das trennt nicht nur zwischen wir und sie, sondern auch zwischen Vernunft und Verblendung. So leiht sich mancher das Schwergewicht der Wissenschaft, um von seiner leichten Meinung abzulenken. Dass er sich mit geliehener Autorität eher schwächt, übersieht er. Wäre er bei seiner Meinung geblieben, bei seinen Interessen – damit könnte man umgehen, das könnte man ausgleichen. So aber wird es unverhandelbar."