Erfolgreich sein gegen eine Pandemie ist keine Frage von Lockdowns

Eine Pandemie zu durchstehen, geht auch mit anderen Mitteln als "down" zu gehen, wie es Hardliner-Länder gerne als alternativlos darstellen. Wie ein "anders" funktioniert, dass hat Schweden gezeigt.

<< Die Bundesregierung hat sinkende Infektionszahlen als Erfolg des Lockdown verkauft – dabei entwickeln sich die Zahlen auch im weniger strengen Schweden ähnlich. Staatsepidemiologe Anders Tegnell setzt weiter vor allem auf das Prinzip Freiwilligkeit.
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Merkel wiederholte (…) das seit Monaten vorgetragene Mantra: dass der (zeitweilige) Rückgang der Infektionszahlen auf die von Bund und Ländern verordneten restriktiven Maßnahmen zurückzuführen sei. Weniger Kranke und Tote dank weniger Kontakte, geschlossener Schulen, Läden und Restaurants. Der strenge Lockdown als alternativloser Kurs. Bloß: Ist dieses Narrativ korrekt?

Der Blick gen Norden, nach Skandinavien, lässt Zweifel aufkommen. Denn auch dem Königreich Schweden mit seinen zehn Millionen Einwohnern ist es gelungen, die Infektionszahlen drastisch zu drücken – und zwar ohne Lockdown. Nachdem Schweden in der ersten Welle noch deutlich mehr Covid-19-Tote zu beklagen hatte, sind die Todeszahlen pro Kopf in diesem Winter, in dem lediglich vorsichtig Maßnahmen beschlossen wurden, fast identisch mit jenen hierzulande.

Im globalen Vergleich steht Schweden seit Pandemiebeginn mit 126 Toten pro 100.000 Einwohnern zwar schlechter da als Deutschland (86) – aber besser als etwa Spanien (149) und Italien (164), wo die Regierung dem Virus mit tief greifenden Freiheitsbeschränkungen inklusive Ausgangssperren begegnete. Auf Platz eins mit einem Wert von 198: Tschechien.

Auch der Blick nach Amerika ist interessant. Kalifornien etwa, fest in demokratischer Hand, steht für ein hartes Herunterfahren. Die Rate an Toten und Infizierten ist jedoch nur leicht niedriger als im republikanisch-freizügigen Florida. Kalifornien zählt 135 Covid-19-Tote auf 100.000 Einwohner, Florida 146. Kalifornien verzeichnet 9079 Infektionen pro 100.000, Florida 8987. Wie kann das ?
Ein Anruf bei Anders Tegnell, dem schwedischen Staatsepidemiologen in Diensten des Amts für öffentliche Gesundheit. Der 64-Jährige hat den viel diskutierten schwedischen Sonderweg vorgezeichnet – und will an ihm festhalten, solange es irgendwie geht.

Tegnell (…) verweist auf staatliche Eingriffe: das Verbot von Großevents etwa, zwischenzeitliche Schulschließungen, Besuchsverbot in Altersheimen, abendliches Alkoholverbot in Bars und Restaurants. Herdenimmunität? Sei nicht das Ziel. 

„Ob Regierungen nun einen Lockdown verhängen oder nicht – am Ende wollen wir alle das Gleiche: dass die Menschen auf Abstand zueinander gehen. Denn damit lässt sich die Übertragung des Virus reduzieren. Und das ist ohne breit durchgeführte Impfungen notwendig“, sagt Tegnell.

Im Unterschied zu anderen Ländern würden die Maßnahmen in Schweden aber vor allem auf Empfehlungen beruhen: „Wir haben uns für diese Strategie der Freiwilligkeit entschieden, weil wir es für richtig halten, die Leute mit Erklärungen zu überzeugen anstatt sie zu etwas zu zwingen. Das hat in Schweden in Sachen öffentliche Gesundheit Tradition.“

Eine Maskenpflicht? Lehnt er ab. Ende vergangenen Jahres hatte Tegnell empfohlen, in Stoßzeiten zumindest in öffentlichen Verkehrsmitteln einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Bei diesem gut gemeinten Rat blieb es. Masken im Freien? „Es fällt mir schwer, mir eine Situation vorzustellen, in der das nötig sein könnte.“

Umfragen zufolge hätten 89 Prozent der Bevölkerung ihr Verhalten verändert, so Tegnell – für ihn ein Beleg, dass es auch ohne Zwang geht. Mit Bars, die zwar früher schließen müssen, aber grundsätzlich in Betrieb sind. Mit offenen Geschäften und Sportstätten – weil sich die allermeisten Leute auch so an die Regeln hielten.

„Der große Fehler, den viele Länder gemacht haben, ist, dass die Nebenwirkungen eines Lockdowns nicht bedacht wurden“, findet Tegnell. „Wenn das gesamte gesellschaftliche Leben stillgelegt wird, dann hat das schwerwiegende Konsequenzen für die Gesundheit, die Psyche und die Wirtschaft.“

Den Vorhalt, dass Schweden im Hinblick auf Tote und Kranke schlechter abschneide als die nordischen Nachbarn, hält er für unfair: „Der Vergleich hinkt, denn unser Land mit seiner Bevölkerungsdichte und vielen Migranten ist ein typisches mitteleuropäisches Land. Und im gesamteuropäischen Vergleich stehen wir, was die Toten angeht, im unteren Mittelfeld.“ Anders Tegnell spricht sich zwar gegen Lockdowns aus, aber er verharmlost die Pandemie nicht, sondern weiß um die Gefährlichkeit von Covid-19.

Am anderen Ende der Welt, in Florida, vermeidet es Gouverneur Ron DeSantis schlicht, über die Gefahren des Virus zu reden. Er sinniert lieber über die Gefahren für Unternehmen und Arbeitsplätze. Der Republikaner, der schon vor einem halben Jahr fast alle Corona-Restriktionen in seinem Bundesstaat aufheben ließ, präsentiert sich als Hüter der Freiheit. In dieser Woche jubelte er: „Wir sind schon lange als Sunshine State bekannt – aber angesichts der beispiellosen Lockdowns, die wir in anderen Bundesstaaten erlebt haben, denke ich, dass die Sonne Floridas jetzt allen, die sich nach Freiheit sehnen, als Leuchtfeuer dient.“

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Experten sind uneins. Der Stanford-Medizinprofessor John Ioannidis, einer der innerhalb der Wissenschaft meist zitierten Forscher, kam Ende 2020 in einer Studie zu dem Schluss, dass ein Lockdown mit Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen nicht unbedingt zielführend sei. Das Autorenteam behauptete, dass es „keine Hinweise“ auf einen wesentlichen Beitrag zum Sinken der Fallzahlen durch verschärfte Lockdowns gebe.

Einiges deute sogar darauf hin, „dass Infektionen unter restriktiveren Maßnahmen in Umgebungen, in denen sich gefährdete Bevölkerungsgruppen aufhalten, im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger auftreten können“. 

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Andere Wissenschaftler wiederum kritisierten diese Studie scharf, hielten auch die Herangehensweise für grundfalsch,  wie z.B. Charité-Chefvirologe Christian Drosten und Helmholtz-Virologin Melanie Brinkmann, die zu den wichtigsten Beratern der Bundesregierung in der Corona-Bekämpfung gehören. Stets hatten sie für restriktive Maßnahmen geworben. Das Kanzleramt und viele Länderchefs teilten die Einschätzung. 

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Anders Tegnell berichtet im Gespräch mit WELT AM SONNTAG von einer Diskussion mit der österreichischen Corona-Kommission in dieser Woche. „Sie wollen nicht zurück in den Lockdown, niemand will das. Die Herangehensweise verändert sich überall auf der Welt“, sagt der Schwede. Und so nähere sich der Rest der Welt immer mehr dem schwedischen Modell an: „Der Abstand verringert sich. Die schweren Konsequenzen von Lockdowns sind überall offensichtlich geworden.“

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Es scheint klar, dass das Corona-Virus nicht verschwinden wird. Es ist zu gut an den Menschen angepasst. Seine spezielle Raffinesse, die Verbreitung über die Atemwege, die große Zahl der asymptomatischen Verläufe und die leichte Übertragung durch Niesen, Husten, Sprechen machen es regelrecht unmöglich, den Erdball vom Virus zu befreien. Zudem macht das Virus auch vor anderen Säugetieren nicht halt. Nerze aus den Niederlanden und Dänemark haben das gezeigt, Tiger in den USA, Gorillas in Tschechien und Katzen in Hamburg. Das bedeutet, dass das Virus, das aus dem Tierreich zum Menschen kam, auch wieder ins Tierreich zurückspringen kann. Selbst wenn wir Menschen es durch Impfungen vertreiben – es kann im Tierreich überdauern und jederzeit zu neuen Ausbrüchen führen, mit frischen Mutationen.

Das Coronavirus wird also bleiben, egal, wie lange wir uns im Lockdown verkriechen oder wie schnell wir impfen. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Das Virus wird wohl seinen Schrecken verlieren, weil es mit Impfungen gut zu bekämpfen ist. Das gilt auch dann, wenn es – frisch mutiert – wieder aus der Tierwelt über die Menschheit herfällt. So wird Corona wahrscheinlich zu einem Saisonvirus werden. Es wird wie die Influenza im Winter grassieren, und Risikogruppen brauchen im schlimmsten Fall eine jährliche Auffrischimpfung.

Und dann? Alles auf Anfang, Party, Kino, Urlaubsreisen? Schön wäre es ja. Aber so einfach kehrt die Leichtigkeit nicht in unser Leben zurück. Es bedarf schon einiger Korrekturen, die viel mit Konsequenzen aus der aktuellen Pandemie zu tun haben. Und genau damit tun sich westlich-liberale Gesellschaften ziemlich schwer. Pandemien verschwinden hier traditionell viel zu schnell aus dem Gedächtnis. 
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[Quelle: WELT AM SONNTAG, 07.03.2021]