Sind Politiker Narzissten?

"Narzisstische Politiker tauchten vor allem in Krisensituationen auf und propagierten eine relativ simple These und blendeten Nachdenklichkeit aus", sagte mal der Psychoanalytiker Rolf Haubl. Nicht nur in Unternehmen, gerade in der Politik fällt Narzissten der Weg an die Spitze leicht. Dabei sind sie meist nicht leistungsfähiger als andere – eher im Gegenteil. 

Sie versammeln sich gerne dort, wo es um Macht und Aufmerksamkeit geht: in den Schlüsselstellen von in unserer Gesellschaft - die Politik hat da eine besondere Anziehungskraft. Von dort aus bestimmen sie über einen großen Teil des Weltgeschehens – hauptsächlich zur Selbstbeweihräucherung. "Sie zeichneten sich dort durch Unehrlichkeit und Inkompetenz aus, seien durch ihre mangelnde Empathie unfähig, etwas Nachhaltiges zu erschaffen", beschrieb die französische Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen in ihrem Buch „Die toxische Macht der Narzissten – Und wie wir uns dagegen wehren“, die besondere Spezies der Narzissten. 

Was ist eigentlich Narzissmus?

Narzissmus kann verstanden werden als eine pathologisch erhöhte Form der Eigenliebe und unrealistische Selbstüberschätzung (vgl. Giacomin/Jordan: 2016). Narzissmus geht für gewöhnlich mit einem starken Freund-Feind-Denken („Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“), einem starken Egozentrismus, klassischerweise einem Mangel an Empathie, einem deutlich erhöhten Anerkennungsstreben sowie stark manipulativen Verhaltensweisen einher (Wardetzki: 2018; Giacomin/Jordan: 2016; Küfner/Dufner/Back: 2014). Narzissmus ist nicht notwendig pathologisch, und einem gewissen Maße ist jeder Mensch narzisstisch, denn es geht darum, mittels Eigenliebe den Selbstwert zu schützen (Wardetzki: 2018). Jedoch kann sich Narzissmus bis zu einer pathologischen Persönlichkeitsstörung auswachsen. Politisch relevant ist, dass Narzissmus sehr stark mit dem Wunsch nach Beherrschung korreliert ist (Nussbaum 2014: 85).

Schauen wir genauer auf narzisstische Politikerinnen und Politiker: sie zeigen eine Vielzahl von Verhaltensweisen, die sich direkt aus dem Narzissmus ableiten lassen. So suchen sie beständig die Bühne und den öffentlichen Auftritt, und sind häufig in den sozialen Netzwerken umfassend aktiv. Sie suchen und provozieren den Konflikt, und schrecken hier auch vor öffentlichen Anfeindungen und Machtkämpfen nicht zurück. Sie agieren rücksichtslos und ungehemmt. Gefühle sind ihnen im zwischenmenschlichen Umgang nahezu völlig fremd. Das Hauptproblem ist, dass sie in besonderem Maße polarisieren. Sie sind weithin bekannt, und meist gibt es in der Bewertung ihrer Person keine Grautöne, sondern eine Unterscheidung in leidenschaftliche Fans und richtige Hasserinnen und Hasser. Sie sind besonders oft in politische Intrigen involviert und hinterlassen allzu oft verbrannte Erde und verschrecken politische Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Sie sind oft rhetorisch versiert, inhaltlich auch gut, charismatisch und gut vernetzt. 

Doch: wie kommt‘s, dass wir ganz aktuell weltweit eine Hochkonjunktur von geradezu narzisstischen Politikern erleben?

Unsere Demokratien basieren auf legal funktionierenden Bürokratien. Auf einer sachlichen Rechtsgrundlage, streng formalistisch, funktional, mit gesetzten, formalen und rationalen Regeln. Wir bewegen uns tagtäglich auf dieser Grundlage. Wir diskutieren und handeln nach sachlichen Zweckmäßigkeits-Gesichtspunkten: Möglichst emotionsfrei, im Idealfall ohne Ansehen der Person und Einfluss persönlicher Motive, jenseits jeglicher Willkür und Unberechenbarkeiten. Vielleicht empfinden genau das narzisstische Politiker als "langweilige Routine, aus der es auszubrechen gilt, um Grosses zu schaffen". Diese Art Politiker wähnt sich möglicherweise in einem Vakuum von Grandiosität, Emotionalität und hat Sehnsucht nach dem „nie Dagewesenen“, Außer-Alltäglichen, Befreiung von Routine und Normen. Eine Krise - wie die Coronakrise - scheint da der fehlende Türöffner zu sein. 

Genau dieses Vakuum füllen narzisstische Persönlichkeiten treffsicher als „Heilsbringer“ aus. Mit dem Versprechen des Erlebens von Grandiosität, der Verwirklichung großartiger Ideen, der Umwälzung von etablierten Fesseln und Lösen von Krisen. Das Bedürfnis nach charismatischen (auch narzisstischen) Persönlichkeiten in einer Gesellschaft, könnte also umso größer werden, je weiter die Entwicklung zu einem bürokratischen, übersachlichen, und krisenanfäligen Funktionalismus fortschreitet. Und genau hier liegt die Gefahr für jede demokratische Gesellschaftsform - erstarrt sie in Routine, in formalen Regelwerken und driftet sie abgestumpft dahin, lädt sie narzisstische Politiker geradezu ein, solche Gesellschaften mit ihrer "Grandiosität" einzunehmen und umzugestalten. 

Die Zivilgesellschaft hat dann nur eine Wahl: sich dem Polit-Narzissmus zu beugen oder das Fortbestehen einer lebendigen Demokratie selbst in die Hand zu nehmen. Fragt sich nur, ob heutige wohlstandsverwöhnte Gesellschaften noch in der Lage sind, überhaupt selbst was in die Hand zu nehmen. Die Coronakrise zeigt in erschreckender Weise, wie demokratisch inaktiv die Bevölkerung geworden ist und in einer seltsamen Lethargie dahinlebend, den politischen Narzissten (längst) das Feld überlassen hat.